Im Gespräch mit Christian Katzer von „Ärzte ohne Grenzen“
Abb. 1: TSCHAD – Nahe der Grenzstadt Adré leben Hunderttausende Menschen aus dem Bürgerkriegsland Sudan in Geflüchtetencamps. Ein Team von Ärzte ohne Grenzen entlädt einen Lastwagen mit Hilfsgütern wie Plastikplanen, Moskitonetzen und Seife. Foto: © Thibault Fendler/MSF

LINEAR: Herr Katzer, Sie sind Bauingenieur. Wie kamen Sie auf die Idee, sich für Ärzte ohne Grenzen zu engagieren?
Zunächst einmal möchte ich LINEAR danken, dass das Unternehmen unsere Arbeit bereits seit 2017 mit Spenden unterstützt – seither mit insgesamt knapp 300.000 Euro. Es ist nicht selbstverständlich, dass eine Firma sich so intensiv für Menschen in Not einsetzt und sozial engagiert.

Jetzt zur Frage an mich: Schon während meines Studiums des Bauingenieurwesens wollte ich in einem internationalen Rahmen arbeiten. Mich interessieren andere Länder, ich reise gern und bin neugierig. Die Firma, bei der ich mein Praxissemester machen wollte, war dann in den Wirren der Nachwendejahre insolvent gegangen. Ich musste mir also kurzfristig etwas Neues suchen. Mit der Unterstützung der Universität und eines kleinen gemeinnützigen Vereins konnte ich dann bei einem Ingenieur in Guatemala arbeiten und beim Bau einer Grundschule unterstützen.

Nach meiner Rückkehr war mein Wunsch gefestigt, weiter international zu arbeiten. Ich bin dann eher durch Zufall über eine Anzeige von Ärzte ohne Grenzen gestolpert, die damit warb, dass auch Personen aus nicht-medizinischen Berufen gesucht werden. Ich bewarb mich, und mein erster Einsatz für die Organisation führte mich 1999 nach Liberia.  

LINEAR: Was haben Sie dort erlebt?
Im Land herrschte Bürgerkrieg. Meine Aufgabe war die Beaufsichtigung von Sanierungs- und Umbaumaßnahmen in drei verschiedenen Krankenhäusern, in denen Ärzte ohne Grenzen tätig war. Die ersten Wochen waren dann auch klassische Baubetreuung und -überwachung: Ausschreibungen und Vertragsverhandlungen lösten sich mit Besuchen auf den Baustellen ab, wo es – wie auf jeder Baustelle – immer kleinere und größere Probleme zu lösen gab. 

Nach kurzer Zeit hatte sich aber der Bürgerkrieg intensiviert und die Krankenhäuser mussten zum Teil evakuiert werden oder wurden bei Kampfhandlungen schwer beschädigt. Dadurch fiel mein eigentlicher Job weg. Gleichzeitig brach aber in der Hauptstadt Cholera aus – dort konnte ich mit meinen technischen Kenntnissen unterstützen, die Krankheit einzudämmen. Auch diese Aufgabe habe ich als sehr sinnstiftend und erfüllend erlebt. In der Folge habe ich immer wieder mit logistischem Fokus in den Projekten gearbeitet.

LINEAR: Welche logistischen Aufgaben gibt es bei Ärzte ohne Grenzen?
Logistiker*innen sind für die technische Umsetzung eines medizinischen Projekts verantwortlich. Sie sorgen für alles, was für den Betrieb von Krankenhäusern und kleineren Gesundheitseinrichtungen unabdinglich ist: die technischen Geräte, die Gebäude selbst, die Lieferkette. Meist sind sie auch für die Implementierung der Sicherheitsvorkehrungen zuständig. Gerade in Konfliktregionen ist das eine sehr wichtige Aufgabe.

LINEAR: Was sind typische Herausforderungen?
Oft geschieht der technische Aufbau unter großem Zeitdruck. Wenn zum Beispiel viele Menschen vor Gewalt fliehen, bildet sich in Windeseile ein riesiges Geflüchtetencamp, quasi eine Stadt im Nirgendwo. Die Menschen dort brauchen Trinkwasser, Abwassersysteme, Latrinen, Unterkünfte, medizinische Einrichtungen. Bei alldem unterstützen Logistiker*innen. Ich selbst habe etwa in Projekten Wasserleitungen geplant, den Bau von Latrinen angeleitet oder für Strom gesorgt. Es gibt letztlich viele Bereiche, die man im Studium als Bauingenieur*in in der Theorie behandelt. In Einsätzen mit Ärzte ohne Grenzen ist aber das Wichtigste, dass man lernt, flexibel zu sein und rasch auf neue Probleme zu reagieren.

LINEAR: Haben Sie ein Beispiel für Flexibilität im Einsatz?
Ich erinnere mich gerne an einen Kollegen, der in einer kleinen Klinik in der Zentralafrikanischen Republik für uns gearbeitet hatte. Wir hatten ihn angestellt, um die chirurgischen Instrumente zu sterilisieren. Das war jedoch aufgrund der Bedingungen vor Ort gar nicht so einfach: Da wir nicht genug Strom hatten, wurden die Geräte in einer Art Dampfkochtopf über einem Holzfeuer erhitzt. Um die benötigte Temperatur zu erreichen, musste das Feuer andauernd mit frischer Luft versorgt werden. Jener Kollege hatte sich aus alten Fahrradteilen wie Pedalen und Laufrad eine Kurbel gebaut, die über einen Riemen ein selbstgebautes Gebläse betrieb. So konnte er ohne viel Mühe das Feuer immer in der richtigen Temperatur halten. Solche konstruktiven Ideen finde ich sehr motivierend. 

LINEAR: Gibt es aktuell Innovationen bei Ärzte ohne Grenzen, über die Sie uns berichten können?
Uns beschäftigt seit einiger Zeit vermehrt unser eigener CO2-Fußabdruck. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, wie wir ihn reduzieren können. Mit innovativen Ansätzen konzentrieren wir uns etwa auf die Verwendung von Verpackungen, möglichst nachhaltige Transportwege und die Müllentsorgung. Alles keine unkomplizierten Themen, wenn wir weiterhin schnell, flexibel und standardisiert arbeiten wollen.

Ich erwähne gerne noch weitere Beispiele: Im epidemiologischen Bereich, also in  der Vorhersage von Krankheitsausbrüchen und deren Verläufen, setzen wir künstliche Intelligenz ein. In unserem Büro in Berlin beschäftigen wir uns mit den vielen Möglichkeiten beim Einsatz von 3D-Druckern. In unseren Projekten werden sie etwa bereits zur Herstellung von Hand-Orthesen oder Schutzmasken nach Gesichtsverbrennungen genutzt.

Aktuell testen wir dazu im Tschad auch Solarmodule, die ausreichend Strom für eine kleine Gesundheitsstation generieren. Diese dezentral organisierte Stromversorgung ist überlebenswichtig für viele Tausende Menschen aus dem Sudan, die sich in Camps im Osten des Tschad in Sicherheit gebracht haben. In Europa bekommen wir von dieser Krise allerdings kaum etwas mit.

LINEAR: Können Sie uns mehr darüber berichten?
Die Menschen sind aus dem Sudan über die Grenze in den Tschad geflohen, weil in ihrer Heimat seit April 2023 ein brutal geführter Bürgerkrieg herrscht. Täglich fallen Bomben, die Menschen leben auf der Flucht in Zelten, haben kaum Nahrung. Jede zweite Person im Sudan ist mittlerweile abhängig von humanitärer Hilfe. Es liegt mir sehr am Herzen, dass diese Krise mehr Aufmerksamkeit erhält. Die Menschen im Sudan und in den Nachbarländern sind wirklich in einer verzweifelten Lage: Viele sind ausgezehrt, krank und mangelernährt – insbesondere Kleinkinder.

LINEAR: Wie hilft Ärzte ohne Grenzen?
Wir haben sowohl im Sudan als auch im Tschad mehrere Hilfsprojekte. Seit Kriegsausbruch und allein bis Februar 2024 haben wir im Sudan zum Beispiel mehr als eine halbe Million ambulante medizinische Untersuchungen durchgeführt. Wir sorgen für Trinkwasser in den Geflüchtetencamps, behandeln Malaria und vieles mehr. Es bräuchte allerdings viel mehr Organisationen, die sich vor Ort engagieren.

LINEAR: Was können Unternehmen leisten, um Ihre Arbeit zu unterstützen?
Unternehmen wie LINEAR können natürlich Geld spenden, vielleicht sogar als Spendenaktion gemeinsam mit den Mitarbeitenden. Denn auf diese Weise kommen nicht nur mehr Spenden zusammen – es sind auch mehr Menschen über die Lage etwa im Sudan informiert. Zudem können Firmen ihre öffentlichen Kommunikationskanäle nutzen, um für die Krise im Sudan zu sensibilisieren. Ärzte ohne Grenzen verwendet zum Beispiel den Hashtag #TalkAboutSudan, um in sozialen Medien Aufmerksamkeit zu erzeugen.

Für uns ist zentral, dass die Anteilnahme an den Nöten in der Welt nicht zurückgeht. In den vergangenen Jahren waren etwa der Krieg in der Ukraine, die Covid-19-Pandemie oder die schweren Erdbeben in der Türkei und in Syrien Anlässe, bei denen die Menschen mit großer Unterstützung reagierten. Wenn wir alle angesichts der aktuellen großen Krisen – wie dem Krieg im Gazastreifen, im Sudan oder auch bei den immer spürbareren Folgen der Klimakrise – die Solidarität weiterhin gemeinsam entfachen können, würde ich mich sehr freuen.

Vielen Dank für das Gespräch.    


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